Das Gehirn geht nicht gerne joggen
Von Stereotypen und Tropes, ein Blick von der Literatur zum Berufsalltag
Nicht nur körperlich tendieren wir dazu, auf der Couch liegen zu bleiben – auch unser Gehirn bewegt sich nicht immer gerne. So neigt es, um sich nicht allzusehr anstrengen zu müssen, dazu Abkürzungen oder vorgefertigte Schemata aufzugreifen.
Doch es ist nicht schlimm, immer mal wieder einen Abend auf der Couch zu verbringen, so lange eine gewisse körperliche Aktivität gegeben ist. Es ist es auch nicht schlimm, das Gehirn mal abkürzen zu lassen, wenn man kurz innehält und hinterfragt, ob diese bequemen Abkürzungen hier okay ist oder die Entscheidung vielleicht doch nicht im Couch-Modus getroffen werden kann. Oft sind solche Couch-Entscheidungen der Grund für fehlende Diversität und Diskriminierung.
Stereotypen sind eine der Abkürzungen des Gehirns bei der Beurteilung von Menschen. Statt sich selbst ein Bild der Person zu machen, wird auf ein “fertiges” Muster zurückgegriffen, welches auf Punkten wie Ethnie, Herkunft, Alter, Geschlecht, Kleidung usw. beruht. Es ist menschlich, dieses Schema im Kopf zu haben, unsere ganze Kultur hat es uns dort hinein gehämmert.
Am Hämmern beteiligt war nicht zuletzt die Literatur. Dort spricht man jedoch nicht noch Stereotypen, sondern von “Tropes”, also Muster, die Autor*innen nutzen, um dem Lesenden rasch eine Bild einer Figur zu vermitteln, ohne sie genauer darstellen zu müssen. Wenn man so will, ist auch das eine “bequeme” Abkürzung für die Verfassenden. Tropes ist ein englischer Begriff und hat nichts mit dem deutschen literaturwissenschaftlichen Begriff “Tropen” zu tun, was ein Oberbegriff für eine Reihe von rhetorischen Stilmitteln ist.
Ein klassisches Beispiel für einen Trope ist die “Prinzessin in Not”, die vom Prinz gerettet werden muss. Dieser Trope ist allgemein bekannt – und hat bei der Entwicklung von emanzipierten Frauenvorbildern richtig schlechte Dienste geleistet. Tropes betreffen jedoch nicht nur Darstellungen von Personen wie die Prinzessin in Not, sondern auch Handlungen, also die Tatsache, dass sie gerettet werden muss. Eine vielfältige Sammlung von Tropes findet sich übrigens hier: https://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/Tropes
Doch ein positiver Aspekt der Gegenwart ist, dass Menschen, die Geschichten schreiben, anfangen die Tropes, die sie nutzen, zu hinterfragen. So ist zum Beispiel die Bewegung zur “Progressiven Phantastik” entstanden, die eben dieses Hinterfragen besonders im Bereich der Phantastik fordert. Vorreiter*innen sind hier Judith und Christian Vogt und James A. Sullivan. Müssen Prinzessinnen gerettet werden? Müssen Prinzen retten wollen? Müssen Drachen böse sein? Muss die Heirat das Ziel einer Geschichte sein?
Vieles, was später zu unserem Rollenbild und unseren Handlungsmustern wird, nehmen wir aus Erzählungen, die wir in unserer Kindheit und Jugend gehört haben. Was wird jedoch passieren, wenn Mädchen nicht mehr die Geschichte von der Prinzessin, die gerettet werden muss, erzählt bekommen, sondern die der kleinen Zauberschülerin, die viel intelligenter ist als der eigentliche Held der Geschichte, und ihn und seinen Freund häufiger mal aus brenzligen Situationen herausholt?
Doch gehen wir einen Schritt weiter: Was wäre, wenn sich nicht nur Romanautor*innen überlegen würden, welche Tropes sie nutzen, sondern auch Menschen mit Personalverantwortung, die Stellenausschreibungen verfassen und Bewerbungsgespräche führen. Braucht man für die Tätigkeit wirklich ein abgeschlossenes Studium? Muss die Person, die ich einstellen möchte, wirklich bereits vier unbezahlte Praktika gemacht haben? Darf der Lebenslauf nie Lücken aufweisen?
Eigentlich schreit das nach einem Seminar von Romanautor*innen für Personalverantwortliche zum Thema “Stereotypen und Tropes”. Ob es das schon gibt? Und wer wäre dabei?